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Die Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch steigt drastisch.
Nicht nur Experten meinen, daß die Insitution Familie in einer Krise steckt

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Er sei ein "liebevoller Vater gewesen", berichten Bekannte. Doch die Beweisaufnahme
vor einem saarländischen Gericht ergibt, daß die einjährige Tochter mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus mußte, weil sein Fausthieb sie aus dem Kinderstühlchen schleuderte. Aus geringem Anlaß, bezeugt die Mutter, schlug
der Vater die Tochter "grün und blau"; machte die Kleine den Teppich naß, wurde
sie mit der Nase über den Teppich gezogen, bis sie blutete - "weil man so einem Hund beibringt, stubenrein zu werden". 

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Polizei und Feuerwehr brechen in Regensburg nach einem anonymen Hinweis eine Wohnungstür auf: Das fünfjährige Mädchen, von der Mutter mit den Füssen an einen Bettpfosten gefesselt, die Arme mit einem Bademantelgürtel verknotet, ist mit frischen
und älteren Wunden übersät.  Nachbarn berichten, sie hätten seit einem Jahr immer
wieder Schreie gehört. 

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Der brüllende Säugling, gerade sechs Wochen alt, sei gegen die Wand geknallt, als
er ihn wütend auf das Bett geworfen habe, sagt der junge Vater vor der Jugendkammer München I. Da er weiterschrie, habe er ihm dann auf den Kopf geschlagen. 
Sein kleiner Sohn war schon tot, als man ihn mit Schädel- und Rippenbrüchen in einer Münchner Klinik einlieferte. 

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Seine Frau sei "immer zickiger" geworden, erklärt ein 43jähriger Mann vor der Fünften Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts, der angeklagt ist, seine jetzt
15jährige Tochter seit ihrem sechsten Lebensjahr sexuell mißbraucht zu haben. Der
Vater streitet, trotz erdrückender Beweislage, alles ab: Das sei "ein Racheakt" des
Mädchens, wohl weil er ihr das Rauchen verboten habe. 

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Auch der 44jährige, der in Stuttgart des sexuellen Mißbrauchs angeklagt ist, kann sich
nicht erklären, warum die Tochter "das sagt". Wenn die Mutter spätabends noch
arbeitete, berichtet die junge Frau, habe er sie seit ihrem zehnten Lebensjahr immer
wieder massiv bedrängt, bis sie schließlich schwanger wurde. "Du darfst mit niemandem
darüber sprechen", schärfte er ihr ein -sie ist seit zwei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. 

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Spektakuläre Falle von Kindesmißhandlung und -mißbrauch aus dem Jahr 1988, die zumindest eine Gemeinsamkeit haben: Sie wurden bekannt.  Gehäufte Scheußlichkeiten, die als vermeintliche Ausnahmeerscheinung im Vermischten der Tagespresse entrüstet zur Kenntnis genommen wurden. Gewalt ist geschehen und entdeckt worden, die Täter sind abgestraft. Einzelfälle, die breiter Empörung sicher sein konnten, sind erledigt. 

So etwas kommt vor. Seit den 60er Jahren wird über Kindesmißhandlung gesprochen, seit Beginn dieses Jahrzehnts ist - vor allem Dank der Frauenbewegung - auch sexueller Mißbrauch von Kindern ein Thema.  Vorsichtig nähern sich Fachleute auch anderen Formen von Gewalt gegen das Kind: körperliche und seelische Vernachlässigung, Streß und Ausbeutung. In Schüben entsteht so ein Bild vom Ausmaß der Härten am heimischen herd. 

Wissenschaftler beginnen zu begreifen: Dem "prägnanten Bild spektakulärer Brutalität", schreibt der Münchner Forscher Michael-Sebastian Honig in seinem Buch "Verhäuslichte Gewalt", stehe die ebenso unermüdliche wie erfolglose Suche nach einem abgrenzbaren Typus von Familienproblemen, nach einem Typus der <Gewaltfamilie> gegenüber". Tatsächlich aber käme Gewalt in ganz normalen Familien vor, werde dort von ganz normalen Eltern verübt: "Alle Versuche, Gruppen von Risikofaktoren zu bestimmen, Risikopopulationen zusammenzustellen und Ursachen familialer Gewalt trennscharf zu bestimmen, müssen als gescheitert angesehen werden." 

Genau hier liegt die eigentliche Dramatik. Gewalt in der Familie, für viele schwer faßbar, läßt sich nicht mehr als Tat tobender Trunkenbolde und irrer Lusttäter abtun - sie ist gängiges Prinzip, allgegenwärtig, alltäglich. 

In 97 Prozent der US-Familien fand man Formen körperlicher Bestrafung, bei immerhin 3,8 Prozent der Kinder zwischen 3 und 17 machten Straus und Kollegen schwerste Formen von Mißhandlung aus. 

Auch in der Bundesrepublik hat eine wachsende Zahl von Fluchtstätten, zunächst die Frauenhäuser, nun verstärkt auch Mädchenhäuser und Notwohnungen für mißhandelte Kinder, die Illusion ausräumen helfen, daß die bürgerliche Familie, idealisierte Kreation des 19.Jahrhunderts, Hort von Eintracht und Frieden ist. 

Bei psychiatrischen Untersuchungen stellte sich heraus, daß diese Schwangeren, so Jungjohann, das Kind als Fremdkörper von Anbeginn haßten, das Gefühl hatten, ausschließlich wegen des zu erwartenden Kindes geliebt zu werden.  Eine Mutter, die ihr Kind trotz Selbstmißhandlung gebar, schrie nach der Abnabelung: "Schmeißt doch den Balg an die Wand!" 

Tückischer noch als die körperlichen Attacken ist die traurige Vielfalt seelischer Mißhandlungen. Der Psychoterror daheim: Techniken des Ignorierens, Verspottens und Drohens, der Erniedrigung und Isolation, aber auch das Umklammern - Ausdruck der Unfähigkeit, Kinder in die Unabhängigkeit zu entlassen. Notorischer Hausarrest bis zum Wegschließen der Kinder in dunkle Verschläge, ständige Beschimpfungen, die brüske Ablehnung jeder kindlichen Lebensregung, bis hin zu merkwürdig gespaltenen Botschaften: Wenn du gut wärst, könnte ich dich lieben - aber du  bis es nicht, deshalb lehne ich dich ab.    In der Summe, vermutet der Kinder- und Jugendpsychiater Gerhardt Nissen, wirkt solch weit verbreitete Nadelstich-Politik noch fataler, weil sie "Kinder zu wehrlosen Objekten psychisch gestörter Eltern macht, die sie lautlos und unauffällig zu masochistischen, depressiven oder aggressiven Neurotikern" erziehen oder durch permanente Herabsetzung "unselbständig, ängstlich und lebensuntüchtig" machen. 

Körperliche Gewaltanwendung ist immer mit seelischer und emotionaler Mißhandlung verknüpft, psychische Folgen aber können auch Kinder abbekommen, die selbst nicht aktiv angegriffen wurden. 

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Ein achtjähriger Junge schildert seine heimische Atmosphäre: 
Bei uns war es so, daß die Luft in der Wohnung, besonders in der Küche, immer voll war von Messern, Tellern, manchmal Stühlen und immer voll von Gebrüll. Der Vater brüllte, die Mutter kreischte und wir Kinder weinten.  Geschlagen haben die mich nie, sondern nur sich selbst. 

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Jedes fünfte Kind, schätzt der Anthropologe Klaus Conrad, Vorsitzender der "Deutschen Liga für das Kind", ist heute von "ernsthafter seelischer und sozialer Vernachlässigung betroffen". Daß Mißhandlung nicht nur als aktives Handeln, "sondern auch als passive Unterlassung zu beschreiben ist", hält auch Jungjohann für "außerordentlich wichtig". 

Das Kind - zugleich Schmusetier und Klotz am Bein? Immer öfter scheinen die raren Nachkommen zur Projektionsfläche elterlicher Ansprüche zu werden. Das Kind soll nicht stören und nicht schmutzen, es soll klug, schön und erfolgreich sein, vor allem soll es die Eltern lieben - ein Luxusartikel, der die Anschaffung lohnt.  Das Kind, beobachtet Bärsch, gerate verstärkt in die Funktion, "die Eltern glücklich zu machen". 

Kann auf Schläge, auf die Ohrfeigen und Klapse, auf Hiebe, Haue, Prügel und Senge nicht gut verzichtet werden, müssen Eltern die Kinder versohlen, verdreschen, bimsen, durchbläuen, übers Knie legen, müssen sie ihnen die Hosen strammziehen, eine langen, herunterhauen oder verpassen? 

Bislang sind alle Versuche gescheitert, das elterliche Züchtigungsrecht nach skandinavischen Vorbild zu schleifen. Nur "entwürdigende Erziehungsversuche" sind nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch "unzulässig". Die körperliche Züchtigung, lehrt der Palandt, meistgenutzter BGB-Kommentar, sei nicht schon als solche entwürdigend. Der "Klaps auf die Hand", ja selbst eine "wohl erwogene", nicht dem bloßen Affekt entspringende "Tracht Prügel" seien durchaus "zulässige Erziehungsmaßnahme". 

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"Ich selber hab' oft genug einen draufgekriegt", erzählt eine Mutter, die in der Düsseldorfer Kinderschutzambulanz behandelt wird. Sie wirkt verstört, sie stottert. Das kleinere ihren beiden Kinder, ein Mädchen, ist ihr weggenommen worden, als es nach einem vermeintlichen Unfall ins Krankenhaus kam. Mit drei Monaten hatte es schon einen Schädelbruch gehabt, dann einen Oberschenkelbruch - Folgen schwerer Mißhandlung durch die Mutter. Die Tochter lebt jetzt bei einer Pflegefamilie. 

Ihr Sohn ist in der Familie geblieben. Die Eltern haben selbst erkannt, daß sie derzeit alleine nicht zurechtkommen, die Mutter ging zum Jugendamt und sagte: "Ich kann nicht mehr." Mehrmals in der Woche macht nun eine Familienhelferin "kontinuierliche Alltagsbetreuung". Die Mutter geht einmal wöchentlich in die Kinderschutzambulanz. 

Ihr Sohn, Andreas*, sitzt im Spielzimmer der Ambulanz, umringt von Puppen, Legosteinen und Kuscheltieren. "Wo willst Du wohnen?" fragt Therapeut Jungjohann. Andreas spielt am Ofen des Puppenhauses herum, knipst den Lichtschalter an und aus: "Im Kindergarten." Er soll die Mutter hereinholen, zögert, geht dann ins Nebenzimmer, wo sie wartet. 

Im Spielzimmer ist der Streit sofort da. Mutter und Sohn brüllen, weil sie sich nicht einig sind, wie mit einem Spielzeug umzugehen ist. "So geht das - "nein" - "Ja" - "Nein". Jungjohann schaut zu und fragt die Mutter dann ganz ruhig, warum sie ausrastet. "Weil ich ziemlich schnell den Geduldsfaden verliere", sagt sie nach kurzem Überlegen. "Gibt's dann auch blaue Flecken ?" fragt er. "Nicht immer", äußert sie etwas kleinlaut, bei der Tochter habe es das öfter gegeben. 

Schon gibt es wieder Geschrei. Andreas will einen Schrank im Spielzimmer öffnen, prompt verbietet der Mutter es ihm. Er kreischt und nölt, fegt durch die Legosteine, schmeißt einen angebissenen Apfel vom Tisch. Der Krach zwischen Mutter und scheint tausendfach eingübt, läuft wie automatisch nach einem simplen Schema ab. Nein - Ja - Nein - Doch - Nein. 

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Nur ab und zu interveniert der Therapeut, beruhigt den Jungen und versucht der Mutter, während sie wieder mit dem Kind spielt zu erklären, warum es zwischen ihr und Andreas ständig knallt, wie sie es verhindern kann, sofort wütend zu werden.  Zum Schluß gibt er der Familienhelferin ein paar Tips und verabschiedet sich bis zum nächsten Mal. 

Besonders der sexuelle Mißbrauch, in vielerlei Hinsicht die perfideste Form von gewalt gegen das Kind, wirft beim therapeutischen Bewältigungsversuch eine Unzahl von Problemen auf. 

Mit Vehemenz leugnen die Täter, meist die Väter, nicht selter aber auch ein Onkel, der Groß- oder Stiefvater, die Tat, deuten die Aussage des Kindes als Racheakt, oder ersinnen abstruse Ausflüchte. Ein Vater, zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil der mit seiner Tochter seit ihrem zehnten Lebensjahr mehr als hundertmal geschlafen hatte, erklärte vor Gericht, er habe sie nur gelegentlich mal "durchgekitzelt". 

Väter als Täter: Je enger die verwandschaftliche Beziehung, desto intensiver ist der Mißbrauch, desto wahrscheinlicher die Gewaltanwendung, desto gravierender die Folgen. Sexuell mißbrauchte Mädchen, davon künden mittlerweile eine Serie von Untersuchungen, zeigen noch viele Jahre später Anzeichen von Ohnmacht und Selbstdestruktion, laufen deutlich größere Gefahr, auch als Erwachsene Opfer eine Vergewaltigung zu werden. Unter Psychatriepatientinnen, Prostituierten, Alkohol- und Drogenabhängigen finden sich überdurchschnittlich viele Frauen, die im Kindesalter sexuell mißbraucht wurden. 

Keine andere Form von Gewalt gegen das Kind bewirkt solche Zerrüttungen, rückt die Familie, vor allem aber ihre vermeintlichen Oberhäupter, so sehr ins Zwielicht. 

"Was wir betreiben", meint Klaus Schmidt, "ist ein erster Ansatz von Friedensforschung in den privaten Verhältnissen." 

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1989, unveröffentlicht von Tom Schimmeck

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